Zeichen
Ohne-Titel, 1985. Öl auf Leinwand, 70 x 100 cm
Das alles hier, jetzt, sagt Anna Stern, die Schweizer Schriftstellerin und spricht von Erinnerungsschichten, die sich überlagern und doch zu jeder Zeit in uns sind, unser Leben mitgestalten. Wo ist das Ziel und wie lang ist der Weg? Vielleicht muss man sich einfach darauf einlassen, nicht an die entschwindende Zeit denken. It’s a pleasure to share ones memories. Ich teile die Erinnerungen mit Johann Rosenboom über damals. Als er 1980 zum ersten Mal nach Italien gefahren ist. Zwei Studenten auf dem Weg nach Italien, nach Arkadien, dorthin, wohin die Künstler fahren, das andere Licht und die andere Sonne, das ganz andere Lebensgefühl. Sie waren in Rom und sie waren in Grizzana in der Emilia Romagna. Sie fanden Grizzana Morandi, ein kleines Örtchen, heute 800 Einwohner vielleicht. Der Freund ging, Johann blieb mit dem Herzen dort und kehrte immer wieder zurück, fand Menschen, gewann Freunde, baute sich einen leerstehenden Stall um.
Zunächst fuhr er einmal im Jahr von Kassel nach Italien, inzwischen bleibt er dort vier Monate. Diese Region ist seine zweite Heimat geworden. Sie nennen ihn «artista tedesco», der «deutsche Maler». Er ist Ehrenbürger von Grizzana Morandi, er hat viel bewirkt dort. Seine Kunst ist eine andere geworden, nächstes Jahr wird er 75. Das alles hier, jetzt.
Man braucht Zeit, wenn man mit Johann Rosenboom über sein Engagement in Italien spricht. Er mag Etikette nicht, er lässt die Jahreszahlen vorüberziehen wie einen Fluss. Alles ist im Fluss. Er sagt, er war vielleicht zwei Jahre dort, er hat gelebt, gearbeitet, gemalt, als ihn ein Freund mitgenommen hat zum Berg der Sonne. Der Monte Sole. Über 700 Meter hoch, eine halbe Stunde entfernt von Rosenbooms Haus. Der Freund hat erzählt, und Johann ist immer stiller geworden. Er ist durch die Ruinen gegangen, das Gestrüpp, das verwilderte Grün, nichts hat daran erinnert und doch war alles wieder da: Das Massaker deutscher SS-Soldaten am Ende des Krieges in Italien, in der Region Monte Sole. Der Kampf mit den Partisanen, die Flucht der Menschen, Bauern, Frauen, Kinder in Todesangst, das Blutvergießen, das Sterben, die Stille danach. Heute sagt der deutsche Künstler:
«Das ist eine kontaminierte Landschaft, die Kultur ist erloschen,
aber der Berg hat überlebt. Er ist da.»
Immer wieder fehlen die Worte. Und auch die Bilder. In der Nacht noch, damals, hat Johann Rosenboom sich hingesetzt mit seinem Zeichenblock. Skizzen über Skizzen sind entstanden. Alle hat er wieder verworfen. «Ich wollte keine Farbe auf dem Blatt, ich wollte kein Blut, ich wollte keine Toten zeichnen, das geht nicht, all das ist für mich nicht möglich.» Vielleicht war das der Beginn des Weges, der Künstler hat seine Skizzen beiseite gelegt – Monte Sole, der Berg der Sonne, aber blieb in seinem Kopf. «Allmählich bin ich in die Gemeinde hineingewachsen, ich bin ins Gespräch mit den Menschen gekommen. Manche waren Zeitzeugen, sie haben mir erzählt von damals. Ein alter Partisan holte plötzlich den Stahlhelm eines deutschen Soldaten hervor.» Sie vertrauten ihm und erzählten, sie erinnerten sich: Von den gemordeten Frauen, den Tötungen in der Kirche, dem Zerstören einer dörflichen Kultur und Identität. Das Massaker hat viele Gesichter.
Der Weg war noch immer ohne Ziel. Doch Johann Rosenboom, der deutsche Künstler, wurde einer von ihnen, begann mit den Zeitzeugen zu reden, besuchte sie, fotografierte sie später. Auf den Bildern, fast überlebensgroß, alte Gesichter, herbe Gesichter und würde man sagen «gezeichnete Gesichter», wäre das vielleicht doch nur eine Formulierung. Manchmal kann Wahrheit auch Kitsch sein.
Die Jahre überlagern sich im Gespräch, die Bilder werden unscharf an den Rändern. Erinnerungsschichten legen sich über Erinnerungsschichten. 2001 findet in Grizzana Morandi eine Ausstellung der Fotografien von Johann Rosenboom statt, zu der er auch noch Bilder von jüngeren Menschen der Gemeinde gestellt hat. 2012 wird ihm die Ehrenbürgerwürde verliehen. Il artista tedesco onorato. Und irgendwann davor, vielleicht war es Mitte der Neunziger, sagt er, «habe ich es gefunden, ein Zeichen, das von Trauer und Schmerz erzählt.» Plötzlich, nach so vielen Jahren, war es da in seinem Kopf, tauchte auf wie der Schemen einer Erinnerung: das Dreieck als Symbol für die Bergspitze des Monte Sole und zugleich Metapher für das Massaker der Deutschen in Italien. Der Künstler zeichnete und radierte «un segno», das Zeichen, in vielfältigen Variationen, mal dunkel, mal hell auf das Papier, schuf unterschiedlich bearbeitete Hintergründe. «Mit der Radiernadel gegen das Vergessen», schrieb eine Kritikerin zu der Ausstellung «Un segno per Monte Sole» im Schloss Arolsen. Hier wurden auch die Fotografien der Zeitzeugen und jungen Menschen den Radierungen gegenübergestellt. Nicht jeder Weg findet sein Ziel. Dieser fand es.
«Das Wichtigste ist», sagt Johann Rosenboom, «dass ich mich nie berufen gefühlt habe, davon eine künstlerische Ausstellung zu machen. Ich war berührt, ich bin hineingewachsen in diese Region, ich bin befreundet mit diesen Menschen, mit Gino und Franco, mit Claudio und Pietro, es ist meine Heimat. Aber es ist auch meine Rolle geworden, die Erinnerung an das Trauma dieser Region wachzuhalten.» Hat man in den 80er Jahren wenig über die deutschen Gräueltaten gehört oder lesen können, wurde das Schreckliche eher verdrängt, ist die Erinnerung inzwischen zurückgekommen. Der damalige Bundespräsident Johannes Rau besuchte die Region 2002, und das Land Hessen ist jetzt mit der Emilia Romagna in Freundschaft verbunden. Es wurde ein Friedenspark aufgebaut und später eine Friedensschule. Gedanken laufen nicht mehr gegen eine Wand. Das Zentrum der Erinnerung kehrt zurück. Das alles hier, jetzt.
«Wenn es schon unmöglich ist zu verstehen, so ist doch das Wissen notwendig», formulierte Primo Levi, Überlebender des Holocaust und italienischer Schriftsteller, einmal, und diese Worte wiederholte auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, als er gemeinsam mit dem italienischen Präsidenten Sergio Mattarella am 25. August 2019 die toskanische Gemeinde Fivizzano besuchte. In Erinnerung an die Opfer der deutschen Massaker vor 75 Jahren. Se comprendere è impossibile, conoscere è necessario.